Der #Gamonal-Effekt

Der Gamonal-Effekt

Der Gamonal-Effekt

Burgos ist mit 180.0000 Einwohnern nicht gerade eine kleine Stadt, jedoch keine, über die im Zusammenhang mit Protesten in Spanien viel berichtet wird. Urplötzlich aber schien Gamonal, ein Stadtteil von Burgos, für eine Woche ein Streichholz zu werden, das imstande ist, ganz Spanien zu entzünden. Gamonal war auf einmal das zentrale Thema unter spanischen Twitterern.
Was war geschehen?

Vergebliche friedliche Proteste gegen einen Boulevard

Die Anwohner des Stadtteils Gamonal hatten monatelang friedlich und vergebens versucht, ein geplantes Bauprojekt aufzuhalten. Ein Video von Dezember 2013:

Bürgermeister Javier Lacalle und seine Partei, die rechte Partido Popular, beabsichtigten, die Hauptverkehrsstraße Calle Victoria in einen Boulevard umzuwandeln, die 4 Fahrstreifen auf 2 zu beschränken. Im Zuge dieser Umbauarbeiten sollten die kostenlosen Anwohnerparkplätze am Straßenrand durch unterirdische kostenpflichtige Parkbuchten ersetzt werden. 8 Millionen Euro waren für den Spaß veranschlagt. Und das in einer Stadt, in der sogar ein Kindergarten geschlossen werden soll, weil angeblich kein Geld dafür da ist (0). Die Menschen in Gamonal ärgerten sich aber nicht nur über Sinnlosigkeit des Projekts, das ihren eigenen Interessen zuwider lief, und die Geldverschwendung, sondern auch über den offensichtlichen Filz und die Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft. Antonio Miguel Méndez Pozo, ein Freund des Bürgermeisters und Eigentümer einer lokalen Zeitung, die stets nur positiv über das Projekt berichtet hatte, ist gleichzeitig einer der Unternehmer, dem Bauaufträge an dem Boulevard zugeschustert wurden. Deswegen war „Méndez Pozo al calabozo“ (ins Verlies mit Méndez Pozo) ein beliebter Demoruf. Aber auch Bürgermeister Lacalle wurde auch mit einem Ruf bedacht: „Lacalle dimite, el pueblo no te admite“ (Tritt zurück, Lacalle, die Bevölkerung duldet dich nicht).

Die heiße Woche

Als am 10. Januar die Arbeiten an dem Boulevard aufgenommen wurden, versammelten sich spontan Anwohner an der Baustelle zu einer asamblea (Versammlung). Durch Mundpropaganda, SMS-Ketten und Aufrufe über soziale Netzwerke nahm die Zahl der Teilnehmer schnell zu. Sie konnten allerdings nicht verhindern, dass die Straße aufgerissen wurde. Als am Abend die Versammlung gewaltsam durch die Polizei aufgelöst wurde, entlud sich der Zorn einiger hundert Menschen. Bauzäune wurden umgeworfen, ein Einsatzfahrzeug der Polizei mit Steinen beworfen und Müllcontainer angezündet. Schnell verbreitete sich auf Twitter die Kunde, dass die Leute in Gamonal die Schnauze voll haben und anfangen, sich Gehör zu verschaffen. Hashtags wie #Gamonal, #Gamonalresiste (Gamonal leistet Widerstand), #ardeGamonal (Gamonal brennt oder auch: Brenne, Gamonal) und #efectoGamonal machten die Runde.

bulevarDas Aktionsbündnis Bulevar ahora no (Boulevard nicht jetzt), dem auch die linke Partei Izquierda Unida angehört hatte, roch Lunte, dass die Proteste bald kein werbeträchtiges Aushängeschild mehr sein würden und löste sich rechtzeitig auf, kurz bevor der Widerstand auf der Straße losbrach. Die vorletzte Meldung des dazugehörigen Twitter-Accounts war ein Retweet, in dem stand: „die Angelegenheit in der Calle Victoria wird langsam heiß“.

Das frisch aufgelöste Aktionsbündnis ließ es sich auch nicht nehmen, sich noch am selben Tag per Pressemitteilung von dem „unzivilisierten Verhalten“ zu distanzieren und zu erklären, dass „Vandalismus“ für sie nie eine Option gewesen sei (1). Wie sich später herausstellte, war die Auflösung das beste, was dem Widerstand passieren konnte: eine Woche später war das Projekt Boulevard Geschichte.

Video der ersten Protest-Nacht:

Die folgenden Tage wurde praktisch ununterbrochen demonstriert, blockiert, Menschenketten gebildet, die Anfahrt von Baufahrzeugen verhindert, versammelt, geplant, gekämpft. Dutzende Demonstranten wurden von den gepanzerten Repressionsorganen festgenommen. Immer mehr Anti Riot Cops von außerhalb belagerten den umkämpften Stadtteil.

Topthemen bei Twitter, 13.01.2014

Topthemen bei Twitter, 13.01.2014

Zahlreiche Städte in ganz Spanien veranstalten Solidaritäts-Aktionen für Gamonal, bekundeten ihre Unterstützung, machten Mut und bewunderte die Entschlossenheit, mit der gegen das verhasste Bauprojekt und die dahinter steckende Korruption gekämpft wurde. 40 Soli-Demos in ganz Spanien meldete Canal 54 für den 17. Januar, 20 Menschen wurden allein an diesem Tag festgenommen, was eine Kette von neuen Solidaritäts- und Anti-Repressions-Demos nach sich zog.

Solidaritäts-Demos im ganzen Land für Gamonal

Liste mit Soli-Demos

Solidarität in ganz Spanien

Fotos aus den teilnehmenden Städten

Nach einigen Tagen verkündete Bürgermeister Lacalle einen vorläufigen Baustopp, aber es zeigte sich schnell, dass die Leute aus Gamonal nicht auf diese Finte zur Beruhigung der Lage herein fielen (Video: Reaktion auf Verkündung des Baustopps). Die Proteste gingen ungebremst Tag und Nacht weiter.

Genau eine Woche nach Ausbruch der vorrevolutionären Stimmung in Gamonal – und zusehends in ganz Spanien – stimmte die Partido Popular mit ihrer Mehrheit im Gemeinderat für eine Fortsetzung des Projekts. Die vor dem Rathaus versammelten Menschen quittierten dies mit einem massiven Eier-Bombardement auf die Fassade des Rathauses. Sie drückten ihr Missfallen sogar noch drastischer aus und brachten an einer Laterne auf dem Platz einen Strick an und riefen. „Lacalle, recuerda, tenemos una cuerda“ (Lacalle, denk dran, wir haben ’nen Strick).

Abends trat der Bürgermeister vor die Presse und verkündete überraschend das endgültige Projekt-Aus (2). Als Begründung gab er an, dass das Projekt nicht durchsetzbar sei. Er habe die Botschaft verstanden. Der soziale Frieden sei wichtiger, als noch so viele Bauprojekte. Der eigentliche Grund dürfte gewesen sein, dass der Druck von der Straße viel zu groß war und dass aus dem lokalen Protest ein Flächenbrand zu werden drohte. In Spanien schwelt dauerhaft eine enorme Unzufriedenheit aufgrund von Faktoren wie Massenarbeitslosigkeit, prekären Arbeitsbedingungen, Kürzungen im sozialen Bereich, Kürzungen im Gesundheits- und Bildungswesen, Bankenrettung und Zwangsräumungen durch eben jene Banken. Lacalle betonte auffallend oft in Interviews, dass die Parteispitze in Madrid ihn bei der Entscheidung nicht unter Druck gesetzt habe (3). Das Gerücht hielt sich nach einem Bericht von El Diario hartnäckig (4).

Am Ende also hieß es La calle (die Straße) gegen Lacalle (der Bürgermeister) – 1 : 0.

Was aber zeichnete (und zeichnet) den Protest aus? Warum gelang in einer Woche, was vorher monatelang unmöglich schien?

Selbstorganisation: die Straße entscheidet

Foto von 24h_tve

Hunderte bei einer Stadtteil-Versammlung
Foto von 24h_tve@Twitter

Nach der Auflösung des Aktionsbündnisses am Tag 0 zerfiel der Widerstand nicht. Ganz im Gegenteil: die Menschen versammelten sich regelmäßig zu Stadtteil-Versammlungen, direkt an der umkämpften Baustelle an der Calle Victoria. Dort planten sie die jeweils nächsten Schritte, berieten sich über Strategien, organisierten Demos und stimmten über anstehende Entscheidungen ab. Es gibt ein offenes Megaphon/Mikrophon, jeder darf sprechen, um seine Meinung vorzubringen. Um sich gegen den Regen zu wappnen, wurden an Ort und Stelle Plastikplanen angebracht, es entstand ein regelrechtes Protest-Camp, wie wir es aus den Zeiten der Bewegung 15M (die Empörten/Indignados) kennen.

Foto von Gamonalenluch2@Twitter

Protestlager und Versammlungsort
Foto von Gamonalenluch2@Twitter

Diese basisdemokratische Nachbarschaftsversammlung löste sich auch nach Projekt-Ende nicht auf (5). Sie wollen sich weiterhin für ihren Stadtteil einsetzen und sich um die Aktivisten kümmern, die wegen ihres Einsatzes gegen den Boulevard unter staatlicher Repression zu leiden haben. Ein Vorteil an der Stadtteil-Versammlung ist auch, dass sich die Leute gegenseitig kennen und Zivi-Bullen schnell als solche enttarnt und höflich, aber bestimmt vertrieben werden können.

Da der alte Versammlungsort nach Projekt-Aus nicht mehr zugänglich war – die Straße wurde in den vorherigen Zustand zurückversetzt und wieder für den Verkehr freigegeben – forderten die Anwohner von der Stadtverwaltung einen neuen Versammlungsort. Überdacht, um sich vor der Kälte zu schützen. Sie stellten ein Ultimatum (6), das die Stadtverwaltung aber verstreichen ließ, mit der Ausrede, es stehe ihnen keine Räumlichkeit zur Verfügung, die sie der Versammlung anbieten könnte. Die Anwohner nahmen die Sache in die eigene Hand und besetzte nach einer erneuten Demonstration ein Gebäude, das 10 Jahre lang leergestanden war, um dort einen Gemeinschaftsort und ein soziales Zentrum einzurichten (7).

Ein erster Blick in das neue soziale Zentrum Foto von Gamonalenlucha2@Twitter

Ein erster Blick in das neue soziale Zentrum
Foto von Gamonalenlucha2@Twitter



Toleranz statt Spaltung

Foto von Gamonalenlucha2@Twitter

Kurzweil bei der Blockade
Foto von Gamonalenlucha2@Twitter

Die Anwohner ließen sich nicht spalten, sondern legten eine außerordentliche Toleranz hinsichtlich unterschiedlicher Aktionsformen an den Tag. Es gab friedliche Demos und Menschenketten, es wurde spielerisch blockiert mit Ballspielen an der Baustelle. Die Schüler riefen zu einem Streik auf (8). Es wurde auf Töpfe geschlagen, getrillert und die Robocops, die den Stadtteil besetzten, wurden von den Balkonen aus beschimpft von Anwohnern. Aber es wurden auch Banken entglast, Bauzäune umgeworfen und ein Baustellen-Container in Brand gesteckt, um ein deutliches Zeichen der Ablehnung zu setzen. Ein Satz, den man so oder so ähnlich immer wieder hören und lesen konnte von Anwohnern, war: „Ich mag eigentlich keine Randale. Aber vorher hat uns niemand zugehört.“

Video: Ein Baustellen-Container wird abgefackelt.

Video: Cops werden mit Steinwürfen verjagt

Auf Fotos von den Protesten sind Menschen aller Altersgruppen zu sehen. Vereint für Gamonal, vereint gegen das Projekt.



Wir sind nicht alle: es fehlen die Gefangenen

Foto von fanetin@Twitter

Die Solidaritäts-Kasse
Foto von fanetin@Twitter

Ob während der heißen Woche oder danach: die Demonstranten vergaßen nicht ihre Mitstreiter, die in die Fänge der Staatsgewalt geraten waren. Immer wieder zogen tausende Menschen solidarisch zu der örtlichen Polizeiwache und forderten die Freilassung der Gefangenen. Auch für den 18. Januar, ein Tag nach Projekt-Ende, berichtete Canal 54 von 4.000 Menschen bei einer Demo für die Angeklagten und Inhaftierten. Es wurde Freilassung und Straffreiheit für alle Betroffenen gefordert.

Zwei der Beschuldigten sitzen in Untersuchungshaft. Die Leute aus Gamonal haben eine Solidaritätskasse angelegt und legen jetzt zusammen, um die Kaution der beiden – jeweils 3.000 € – bezahlen zu können (9).

Foto von Gamonalenlucha2@Twitter

Der Erlös kommt den Angeklagten zugute
Foto von Gamonalenlucha2@Twitter


Die Unterstützer besetzten an einem Tag auch friedlich Bankfilialen, um die Banken zu überreden, ihre Anzeige gegen die Aktivisten zurückzuziehen (10).

Freiheit für die Gefangenen Foto von Peridimo digno

„Freiheit für die Gefangenen“
Foto von Periodismo digno

Update: Am 30. Januar teile „Gamonal en lucha“ über Twitter mit, dass alle Gefangenen draußen sind. Es werden jetzt Spenden gesammelt für Anwaltskosten und für eventuelle Bußgelder. Es laufen gegen insgesamt 46 Personen Verfahren im Zusammenhang mit den Protesten.

Eigene Informationskanäle

efectogamonal2Von großer Bedeutung war auch der eigene Informationskanal, der über Twitter regelmäßig aktuelle Informationen und Fotos verbreitete. Der Name des Kanals lautet Gamonal en lucha 2 (Gamonal im Kampf). Die Zahl 2 deshalb, weil der Vorgänger-Account aus unbekannten Gründen geschlossen wurde. Ein Blog wurde ebenfalls eingerichtet, Gamonal ni un paso atrás (Gamonal, nicht ein Schritt zurück), der Neuigkeiten unter die Leute bringt. Auch einen Bambuser-Kanal namens „Efecto Gamonal“ (der Gamonal-Effekt) gibt es, für Live-Streams.

Diese eigenen Informationskanäle stellten sich als besonders wichtig heraus, als die Medien eine massive Lügenkampagne gegen die Protestbewegung auffuhren, um diese zu kriminalisieren und dadurch zu diskreditieren. Es wurden Fotos von abgebrannten Autos gezeigt, obwohl die Aufnahmen weder aktuell waren, noch aus Gamonal stammten (11). Auch die Polizei-Lüge, dass es sich bei den militanten Demonstranten um „Krawalltouristen“ (grupos violentos itinerantes) handle, wurde von den Medien genüsslich verbreitet, obwohl sich zeigte, dass alle festgenommenen Personen aus Burgos waren. Die Polizei musste später zugeben, dass sie keinerlei Beweise für ihre Aussage hat (12).

Update: Über den Twitter-Kanal „Gamonal en lucha“ wurde nach Projekt-Ende eine lesenswerte Botschaft übermittelt. Der Titel lautet „Ende des Gehorsams“. Text und Übersetzung können in diesem Bodenfrost-Beitrag gelesen werden.

Berichte auf deutsch:

  • „Aufstand in Burgos“Urban resistance
  • „Vetterleswirtschaft gestoppt“Blog.Reiner-Wandler
  • „Straßenschlachten wegen Straßenumbaus“Der Standard
  • Es berichteten auch taz, Berliner Zeitung und Schwäbisches Tagblatt.

Berichte auf englisch:

  • „The battle for Burgos“Anarkismo
  • „Popular mobilization completely paralyzes Gamonal boulevard“Anarkismo
  • „Spain: Gamonal is only the beginning. Demonstrations against urban-political corruption“X-pressed
  • „Why are they rioting in Burgos?“David Jackson
  • „#GamonalEffect Reignites Mass Protest Across Spain“Occupy Wall Street

Berichte auf spanisch:

Weitere Fotos/Videos:

Quellen:

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8 Antworten zu “Der #Gamonal-Effekt”

  1. Johannes Weber sagt :

    Vielen Dank für diese Informationen!

  2. Moritz Herbst sagt :

    Artikel in der Jungle World zu Gamonal:
    http://jungle-world.com/artikel/2014/05/49244.html

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